Texte zu Männerfragen

Die untenstehenden Texte sind zwischen 2009 und 2015 entstanden und ich habe sie zum grössten Teil für die Männerzeitung geschrieben. Davon ausgehend sind auch Fachartikel und Expertenberichte entstanden. Wenn Sie den Text im PDF-Format wünschen, dann schreiben Sie mich einfach an: Kontakt
 

  • James Bond und Männer-Initiation - vom 0815-Agenten zum reifen Mann - veröffentlicht für das Lassalle-Haus, September 2009, angepasst für diese Webseite Mai 2019
  • Vaterlosigkeit als Inszenierung der Moderne - Männer-Zeitung, März 2010
  • Reife Männlichkeit entwickeln. Unterwegs mit dem Kompass der Archetypen - Reportage. Männerzeitung, September 2010
  • Kritische Männerforschung in den Jugendjahren - Mens Studies - Buchbesprechung: Gender-Studies und Männerforschung. Männerzeitung, September 2012
  • Was Männer zu Männern macht - Mens Studies - Neuerscheinungen der Männerforschung. Männerzeitung, Dezember 2013
  • Pornographie - heterosexuell dominante Populärkultur - Buchbesprechung: Die massenmediale Inszenierung von sexuellen Phantasien heterosexuell dominanter Männlichkeit. Männerzeitung, September 2012
  • Elternzeit in Schweden und in der Schweiz - Reportage: Die Zukunft der schweizer Geschlechter- und Familienpolitik. Männerzeitung, März 2012
  • Väter- und Elternzeit in Europa. Eine Übersicht - Wie steht es um Väterzeit in der Schweiz und Europa? Männerzeitung, Juni 2012
  • Fünf Männer, zehn Kinder und ein Supersommer - Reportage: Aktive Papis nehmen sich Väterzeit. Männerzeitung, Dezember 2015
  • Elternzeit im internationalen Vergleich - Dieser Beitrag für die Literaturstudie "Vaterschaft und Elternzeit" verfasst für die Abteilung Kinder- und Jugendpsychotherapie der Universität Ulm, 2012, Bernhard von Bresinski, Prof. Dr. Heinz Walter
  • Männer und Väter in der Psychotherapie - Buchbesprechungen. Männerzeitung, September 2013
  • Väter zu Besuch in Ausschwitz - Bericht von der vierten Konferenz in Polen im März 2014. Männerzeitung, Juni 2014
  • Wie gründe ich eine Männergruppe? Werkzeugkasten. Beitrag veröffentlich im Buch: MENSCH MANN. Männergruppen im Aufwind, Verlag Text Art, 2012

Archetypen aktivieren. James Bond und Männer-Initiation.

„Wann ist ein Mann ein Mann?“ Grönemeyer sang das Lied vor Jahrzehnten. Die Frage ist immer noch aktuell. Und darauf hat sich in den letzten dreissig Jahren eine alte Antwort neu entwickelt: Männer-Initiation mit den vier Archetypen. Eine zeitgemässe Männer-Initiation stärkt ein reifes, kraftvolles Mannsein.

Initiation - Mann werden. In fast allen Gesellschaften und Kulturen wurden Initiations-Rituale für Männer entwickelt – viel mehr als für Frauen.  In den allermeisten Kulturen wächst man nicht zum Mann heran, sondern wird zum Mann gemacht. Frauen haben durch ihre biologisch gegebenen Erfahrungen der Menstruation und des Gebärens einen natürlichen und körperlichen Zugang zu Schmerz und Blutungen. Männer dagegen müssen – um ihre Verletzlichkeit zu erfahren und zu reifen – aus der Welt der Mütter herausgeführt, sowie mit ihren körperlichen und mentalen Grenzen konfrontiert werden. Dies ermöglicht eine seelische Öffnung und bringt Männer in Verbindung mit sich selber, mit Mitmenschen und mit der Natur. Umso mehr, als sie so sozialisiert sind, sich immer wieder auf unverbundene Art stark zeigen zu müssen.

Männer-Initiation war in der Vergangenheit oft eine "militarisierte" und mitunter erniedriegende Erfahrung. Moderne Initiation ist eine, die Männer nicht abhärtet, zurichtet oder uniformiert - davon haben Männer zuviel erlebt - , sondern eine Einweihung in die  authentische Welt von souveränen Männern, die zu sich stehen, ihre Gefühle zulassen, klare Entscheide fällen und von Herzen Verantwortung übernehmen. Dahin bringen wir Männer nur, in dem wir sie an ihre inneren Grenzen führen, Ihnen neue Türen öffnen und sie auf ihrem persönlichen Weg begleiten.

Der Spruch „Indianer kennen keinen Schmerz“ ist ein Erfindung der Weissen, für die Eingeborenen Amerikas war es gerade umgekehrt: sie haben das Zulassen von Schmerz kultiviert und transzendiert. Moderne Männer-Initiation - rituelle Männer-Arbeit - führt in Räume, wo Männer lernen, zu sich zu stehen, sich mit der Natur zu verbinden, Schmerz zuzulassen und auszudrücken, die eigene Verletzlichkeit anzunehmen und dadurch zu innerer Stärke zu finden. Das braucht Mut.

Helden ohne Substanz. Dafür ist James Bond ein schönes "Vorbild". Agent 007. Ungebrochen bleibt die Faszination für dieses phantastische Männlichkeits-Karrikatur: der coole Held, königlich souverän, topgerüstet mit magischer Technologie, allzeit bereit zum Revolver-Fight und ein unwiderstehlicher Liebhaber! Wie kommt es, dass diese filmische Bubenphantasie für so viele Zuschauer eine attraktive Männer-Figur geblieben ist? Wie schafft es diese Hollywood-Attrappe Sehnsüchte zu wecken? 

Ist 007 ein König der Verantwortung? Nein! - Kämpft 007 für den Frieden?  Njet. – Lebt 007 die Magie der Weisheit? Nee, aber ne tolle Portion Inuition hat er schon. Ist 007 seiner Frau ein bindungsfähiger Mann und seinen Kindern ein anwesender Vater? Ein schlechter Witz! Zeigt er sich mal verletzlich oder weint er sogar? Wo denkst Du hin! Nein, er ist einfach ein knallharter, durchtrainierter, risikosüchtiger und verführerischer Typ mit einer Lizenz zum Töten. Ok, OO7 ist cooler Mythos – und Humor hat er auch.  Aber was finden Männer toll an ihm? Was fasziniert sie im Grunde so sehr? 

Der Kern der Faszination. Die Antwort mag überraschen: 007 ist einfach ein toller Agent. Einer der einen perfekten Job macht, einer der für die Krone alles tut. Das reicht. Die meisten Männer haben einen superguten Agenten in sich, der es den Anderen immer recht machen will. Einer, der sich in den Dienst der Anderen stellt und für seinen Auftrag das Beste gibt. Männer, die ihre wahren Bedürfnisse automatisch über-gehen, um die Erwartungen der Partnerin oder des Chefs zu erfüllen. Weil sie die Anerkennung suchen, die sie von den Vätern nicht bekommen haben. Die meisten Männer stehen so in Firmen und Institutionen in einem fremdbestimmten Dienst: Lehrer, Informatiker, Handwerker, Banker, Polizisten, Therapeuten und Unternehmer. Und wenn sie selbständig sind, dann müssen sie dem Diktat des Marktes gehorchen.

Übergangskrisen  Beim Erwachsenwerden und in der Lebensmitte kommt es oft zu Übergangskrisen. Die Männer merken, dass sie gar nicht wissen, wer sie sind. Die Krisen bringen sie durcheinander: Unfälle, Krankheit, Burn-Out, Unzufriedenheit im Beruf oder Trennung bzw. Scheidung. Dann ist eine tiefe Neu-Orientierung angesagt. Plötzlich entpuppen sich die bisherigen Visionen als Illusionen und Männer realisieren, dass sie irgendwie noch ganz erwaschsen geworden sind. 

Um sich auf den mitunter schmerzvollen Weg nach innen zu begeben, brauchen Männer oft einen Anstoss. Und die Unterstützung der initierenden Durchsetzungskraft des lichtvollen Kriegers. Oft sind es die oben genannten Übergangskrisen, die Männer auf diesen Weg führen. Also gerade jene Erfahrungen, die ein James Bond nie machen muss. Um in ihrer Gefühlswelt nachzureifen, hilft Männern das mitfühlende Mitschwingen eines haltgebenden Männerkreises und das wertschätzende Vorbild von erfahrenen Mentoren. 

Lebenschule für Männer. Die Arbeit mit den vier Archtypen im Jahreszyklus – innerer Krieger, Liebhaber,  Magier und König – ermöglicht eine Reise zu den Kraftquellen eines reifen Mannseins. Es ist eine Lebensschule für Männer. Jedes Seminar setzt sich mit einem Archetypen auseinander, erfahrungsorientiert und spielerisch. Die vier Folgeseminare im Jahreszyklus verbinden die männlichen Archetypen mit den Jahreszeiten und entwickeln ein neues Bewusstsein für Übergangs- und Wandlungszeiten im Kontakt mit der Natur.

Vaterlosigkeit als Inszenierung der Moderne


Kürzlich hat mein ägyptischer Kollege im Niederdorf von Zürich, der den besten Falafel der Stadt macht, eine schöne Binsen­-Wahrheit gesagt: «Es ist einfach, ein Kind zu machen, es ist einfach, Kar­riere zu machen, aber es ist gar nicht einfach, ein guter Vater zu sein.» Er ist ein traditioneller Vater. Seit dem Tod seines Va­ters ist er das Oberhaupt der Grossfamilie. Er ist stolz auf sein Vater­-Sein, liebt seine vier Kinder: «Wenn ich zuhause bin und mein Kind mir ein Lächeln schenkt, dann vergesse ich alles andere, dann bin ich der glücklichste Mann der Welt.»

Der moderne Mann ist in Bezug auf sein Vaterbild ein unglücklicher Mann. Ein Mann, der sich gegen die herkömm­lichen Vater­ und Mannsbilder aufgelehnt hat und im Bruch mit der Tradition auf der Suche ist nach neuer Männer-­Bande. Moderne Männer sind Söhne, die sich von ihren Vätern ver­lassen oder nicht gesehen gefühlt haben: existentiell verletzte Männer. Und auch wenn der eigene Vater präsent war, dann wurden sie durch männliche Autoritäten verletzt. Für den Schmerz und die Scham stellen sie sich taub, sie lehnen sich auf gegen die Väter und verlassen sie. Sie wiederholen ihre Verletzungen. Und dieser traumatische Bruch wird über die Generationen weitergegeben. Und auch wenn Söhne sich mit ihren Vätern versöhnen, so sorgen doch die gesellschaftlichen Bedingungen dafür, dass Vaterlosigkeit reproduziert wird. Die modernen Gesellschafts-Strukturen fördern den traumatischen Bruch zwi­schen Söhnen und Vätern. Sie machen aus verlassenen Söh­nen vaterlose Gesellen und harte Überväter – unreife Männer.

Vaterlosigkeit überwinden: Die Versöhnung mit dem Vaterbild

Die Männer der Zukunft haben einen harten Job: sie müssen sich mit ihrem Vaterbild versöhnen, um reife Männer zu wer­den. Sie müssen die Arbeitszeit verkürzen, um anwesende Väter zu werden. Und vor allem müssen sie den Wandel der gesellschaftlichen Strukturen ermöglichen, der die Bindung zwischen Vätern und Söhnen bzw. Töchtern ermöglicht. Väter müssen lernen anzuerkennen, wer sie sind: nämlich Söhne, die liebende Väter und Mentoren brauchen. Männer, die den Vater anerkennen, respektieren und würdigen.

Warum ist das so schwierig? Es ist Teil der Vater­-Wunde der Männer, dass sie glauben, sie seien einfach nicht gut genug. Das Gefühl des Ungenügens produziert Vaterlosigkeit. Und die Frauen reiben es ihnen zu oft unter die Nase, dass sie nicht in Ordnung sind, weil sie selbst den Vater vermisst haben und diese tiefe Verletzung auf ihre Partner projezieren. Männer glauben an ein konstitutionelles Ungenügen als Söhne und als Väter: sie können zwar ein Kind zeugen, aber nicht austragen und gebären. Sie können das Baby in den Arm neh­men, aber nicht stillen. Sie können diese tiefe Bindung zur Mut­ter, die das Baby im ersten Lebensjahr braucht, nicht erset­zen.

Richtig. Aber Väter können einem Baby die Nabelschnur durchschneiden, es baden und es willkommen heissen. Sie können dem Baby im ersten Lebensjahr eine notwendige Le­benserfahrung schenken: dass da neben der Mutter ein Mann präsent ist, der dieses Baby umsorgt und liebt, seine Bedürf­nisse sieht und der dieses Kind als das Seine anerkennt. Väter sind ein ebenso notwendiges Tor in die Welt wie die Mutter – bloss in die andere Richtung. Durch seine Präsenz vermittelt der Vater dem Kind das Vertrauen, dass es sich von der Mutter lösen kann und in die Welt gehen kann. Väter sind grundlegend wichtig und zentral für die Identitätsentwicklung des Kindes, weil die Position des Vaters dem Kind ermöglicht, in die Autonomie zu gehen.

Mit der Scham des Ungenügens – in der Regel genährt durch er­fahrene Vaterlosigkeit – werden besonders getrennt erziehende Väter konfrontiert. Oft genug schlägt es sie in die Flucht. Männer, die nach der Trennung präsente Väter blieben wollen, brauchen Unterstützung: denn der Schmerz, die Trennung, der berufliche Druck und die Gesetzeslage – auch mit dem neuen Gesetz – ma­chen es den meisten Männern schwer, präsente Väter zu blei­ben. Rückzug und Abwesenheit ist meist der einfachere und vertrautere Weg. Väter­-Gruppen ermöglichen Männern, sich ge­genseitig aufmerksame Mentoren zu sein. Das ist heilsam.

 

Das Buch zum Thema Vaterlosigkeit

Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee, Herausgegeben von Dieter Thomä, Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Im April 2008 fand in Wien eine Tagung unter dem Titel «Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee» statt. Im Januar 2010 nun hat der Suhrkamp-Verlag die versammelten Beiträge in einem Buch herausgebracht. Der Herausgeber ist Dieter Thomä – Philosophie-Professor an der Universität St. Gallen. Er ist 2008 einem breiteren Publikum bekannt gewor- den mit dem Buch «Väter. Eine moderne Heldengeschichte.» Darin hat der zweifache Vater in einem süffigen geschriebenen Stil ein geschichtsphilosophisches Panorama der Väterbilder aufgespannt. Vaterlosigkeit wird beschrieben als ein «Teil des Programms der Moderne» – ausgehend vom 17. Jahrhundert bis heute. Denn mit Fortschritt und Emanzipation war immer auch die Abdankung, Absetzung oder Verwerfung von patriarchalen «Vätern» verknüpft.

«Vaterlosigkeit» wird hier also als ein dynamisches Muster der symbolischen Inszenierung von Moderne differenziert: dem Sturz von Übervätern folgen neue und zweifelhafte Vater-Figuren oder neue Formen «sozialer» Vaterschaft. Der Enthauptung des französischen Königs folgt eine Revision privater Vaterrollen. Deutschland war nach dem zweiten Weltkrieg durch die millionenfach gefallenen Väter eine «vaterlose Gesellschaft», die Grundbefindlichkeit der «vaterlosen Söhne» war geprägt von der Suche nach «Vaterersatz», der Mutterdominanz folgte «Vatersehnsucht» und auf die 68er-Revolte gegen die väterliche Kriegsgeneration folgte die «Vatervergewisserung»: von 2002 bis 2004 erschienen in Deutschland in überregionalen Tageszeitungen eine grosse Anzahl von Todesanzeigen, in denen Söhne und Töchter an den Kriegstod des Vaters vor sechzig Jahren erinnerten.

Die dreizehn Beiträge aus Geschichte, Literatur, Soziologie und Philosophie bieten eine spannende interdisziplinäre Vielfalt mit einem gemeinsamen Anliegen: sichtbar zu machen, wie machtvoll symbolische «Vaterlosigkeit» wirksam ist. Es geht also nur in zweiter Linie um die fürsorgliche Abwesenheit der Väter – in erster Linie geht es um politische, philosophische oder literarische Inszenierungen von Vaterlosigkeit, um neue symbolische Ordnungen von «Vaterschaft»– die ihrerseits neue Formen realer und symbolischer «Vaterschaft» produzieren.

Heute hat der familienfeindliche Kapitalismus zur Folge, dass immer weniger Eltern erst spät wenige Kinder bekommen. Die Gesellschaft überaltert. Seit den 68er-Jahren ist das bürgerliche Familien-Modell in der Krise. Die Gleichstellung macht Fortschritte, die Väter sind in der Kinderfürsorge präsenter, in den individuellen Einstellungen hat sich die väterliche Partizipation als eine normative Erwartung etabliert. Die soziologische Realität bleibt jedoch ernüchternd: im europaweiten Durchschnitt beträgt das Verhältnis der elterlichen Kinderfürsorge 70:30 zugunsten der Mütter. Immerhin hat sich der Stil der Zuwendung der Väter zu den Kindern markant verändert: die Vater-Kind-Beziehung ist emotionalisert und autoritäre Einstellungen haben deutlich abgenommen.

Es war Alexander Mitscherlich, der 1963 mit seinem einflussreichen Buch «Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft» die symbolische Vaterabschaffung und Vaterlosigkeit zum grossen Thema machte. Die zündende Idee für Dieter Thomä kam durch eine Veranstaltung des Frankfurter «Instituts für Sozialforschung». Doch leider kommt in diesem spannenden Band kein einziger Vertreter aus der psychoanalytischen Sozialforschung zu Wort. Obschon zeitgleich zur Tagung «Vaterlosigkeit» im April 2008 der Zürcher Psychoanalytiker Emilio Modena einen Sammelband zum 100. Geburtstag von Alexander Mitscherlich herausgab: «Unterwegs in der vaterlosen Gesellschaft. Zur Sozialpsychologie Alexander Mitscherlichs.» (Psychosozial-Verlag)

Väter zu Besuch in Ausschwitz

Internationales Väter-Treffen in Polen - Vom 27.- 29. März 2014 fand das 4. und letzte internationale Väterarbeits-Treffen in Krakau statt. Die drei intensiven Konferenztage in Polen haben für die Väterarbeit wichtige Impulse gesetzt. Die Begegnungen mit den rund dreissig engagierten Väterarbeitern aus Polen, Deutschland, und Österreich waren sehr anregend. Der gemeinsame Besuch im ehemaligen Juden- und Menschen-Vernichtungslager der Nazis in Auschwitz hat viele der teilnehmenden Männer erschüttert. Der Besuch in Polen hat in Erinnerung gerufen, wie sehr Männlichkeit durch Kriegserfahrungen geprägt ist – auch heute noch – und gerade in Polen.

Feudales Wohnen und Konferieren im ältesten Kloster von Polen - Die Konferenz war in der Form einer „Lernpartnerschaft“ konzipiert – das Ziel war, dass die anwesenden Vertreter aus der Väterarbeit voneinander lernen. Das Treffen fand nicht weit von Krakau statt - im ältesten polnischen Kloster gegründet 940 n.Ch. - eine grosse Anlage auf einem Felsenhügel– mit einer wunderbaren Aussicht auf die Weichsel, die dort durch die Ebene fliesst. Das Benediktiner-Kloster wurde seit dem 2. Weltkrieg laufend renoviert und bietet heute Übernachtungs-Möglichkeiten und Konferenzräume auf hohem Niveau (www.domgosci.benedyktyni.com). Bedient wurden wir von Mönchen in der schwarzen Kutte in einem sehr offen gestalteten Ambiente. Noch nie habe ich mich in einem Kloster so wohl gefühlt.

Die Bilanz der vier Lernpartnerschaftstreffen - Das Treffen in Polen war die letzte von vier Konferenzen, die zuerst in Salzburg (OE), Aarau (CH) und Unna (D) stattgefunden hatten. Es waren immer auch Reiseprojekt, wo vor Ort Einrichtungen der Väterarbeit besucht wurden. Die über mehrere Jahre angelegte Lernpartnerschaft von Vätern wurde initiert durch das Väterzentrum Berlin (www.vaeterzentrum-berlin.de). Frankreich und Schottland konnten leider nicht mitmachen. Die vier Treffen haben viele neue Verbindungen und Kooperationen ermöglicht. Besonders haben die polnischen Vertreter profitiert. In Polen gab es vorher keine Väterarbeit und durch das Projekt wurde sie initiert. Gezeigt hat sich, dass es einen grossen Nachholbedarf im rechtlichen und politischen Bereich gibt. Das Treffen in der Schweiz hat deutlich gemacht, dass die materiellen Unterschiede in der EU die Organisationsmöglichkeiten für eine solche Lernpartnerschaft ziemlich einschränken. Andreas Borter, der Initiator der schweizer Väterbewegung, hatte grosse Anstrengungen unternommen, um das Treffen in der Schweiz für die polnischen Gäste bezahlbar zu machen. 

Das Einkommensgefälle unter den Teilnehmern - So waren auch im Kloster die für unsere Verhältnisse günstigen Preise für die polnischen Kollegen zu hoch, sie mussten bei Familien und Bekannten in der Region übernachten. Diese simple Tatsache hat bewusst gemacht, dass es für Väterarbeit auch Geldquellen braucht – die heute in Deutschland, Österreich und Polen vorwiegend kirchlich organisiert ist. Und so waren die polnischen Kollegen für das tolle, informelle Abschlussessen im feudalen Restaurant der Altstadt nicht mehr dabei - sie hätten sich das Essen dort nicht leisten können: in einem feudalen Rittersaal, mit Rüstungen und Waffen an der Wand, sassen da zwanzig Väter um eine grosse, weissgedeckte Tafelrunde, mit grossen Kronleuchtern und einer feierlichen Stimmung – doch alle noch ein bischen aus dem Tritt durch den Besuch in Auschwitz am gleichen Morgen.

Kondensierte polnische Geschichte in Krakow - Die polnischen Gastgeber haben für uns Teilnehmer eine Stadtführung organisiert – und einen Historiker, der immer da war für die polnisch-deutsche Übersetzung. Er hat uns laufend die geschichtlichen Hintergründe Polens verständlich gemacht. Wer heute nach Krakow ankommt, der ehemaligen Hauptstadt von Polen, staunt über diese wunderschöne, tausendjährige Stadt auf der Seidenstrasse, sehr schön renoviert, mit viel Charme, die vielen Läden, Cafés und Restaurants. Man kann zu jiddischer Klezmer-Muzik essen, das jüdische Stedtle hat für Touristen seinen ganz besonderen Charme und nur die Stadtführung und ein kleines Denkmal erinnern noch daran, dass die Nazis im 2. Weltkrieg alle 65'000 jüdischen Bewohner von Krakau ermordet haben. Heute ist die jüdische Gemeinde wieder auf ein paar hundert Bewohner angewachsen. „Warum so wenig?“ haben wir unseren Übersetzer gefragt. Seine Erklärungen waren ein gute Vorbereitung auf den Besuch in Ausschwitz. 

Von der Opfernation zur eingestandenen Mittäterschaft - Wer in Polen übers Land fährt, sieht, dass der Antisemtismus immer noch sehr lebendig ist. An vielen Mauern sind Davidssterne angesprayt, kombiniert mit den Initialen von Fussballmannschaften – so wird in Polen eine gegnerische Mannschaft beschimpft. Weil „Jude“ im Fussball immer noch das beliebteste Schimpfwort ist. Ein nationaler Gedenktag für die Befreiung der Konzentrationslager ist heute in Polen immer noch undenkbar, es würde zuviel politischen Widerstand geben. „Wir waren Opfer, keine Täter“ lautet das politische Credo vieler Polen, wenn es um den zweiten Weltkrieg geht. Aber man muss in Erinnerung behalten, dass erst nach 1989, nachdem Polen die volle Unabhängigkeit wiedergewonnen haben, sie sich wieder frei mit der eigenen Geschichte auseinandersetzten konnte. Gerade in den letzten Jahren ist der öffentliche Streit um Polens Mitschuld am Holocaust wieder neu aufgeflammt und hat schliesslich die Zivilgesellschaft gestärkt.

Der Besuch im Konzentrationslager Auschwitz - Roman Fenger, dem Organisator des Treffens in Krakau, war es ein grosses Anliegen, dass wir Teilnehmer auch Auschwitz besuchen. Die Begründung für seinen Wunsch war einfach: „Auschwitz ist ein wichtiger Teil unserer polnischen Geschichte, viele Leute die nach Krakau kommen, wollen dort hin, es prägt unser Denken und weckt grosse Emotionen“. Und tatsächlich: der Besuch der Konzentrationslager von Auschwitz hat sehr starke Emotionen geweckt. Zuerst war es für viele Männer einfach ein grosser Schrecken, an diesem Ort zu sein. Doch dann hat der persönliche Austausch unter den Vätern viel heilsame Prozesse ausgelöst. Es war sehr berührend zu sehen, wie diese gestanden Männer teilweise zu stolpern begannen. Wie ihre Tränen kullerten. Weil es einfach gefühlsmässig fast nicht auszuhalten war, in Birkenau auf dem gleichen Stück Erde zu gehen, auf dem Millionen von Juden in die Vergasung gehen mussten. Konfrontiert zu sein mit der totalen Unfassbarkeit dessen, was dort geschah. Die Geschichten von den Kindern zu hören, die Dr. Mengele zu Tode gequält hat. Zu realisieren, dass die Mehrheit der Lager-Nazis Familienväter gewesen waren, deren Familien vor Ort lebten – und wussten, was geschah. 

Männer- und Väterarbeit nach Auschwitz - Einer der anwesenden Väter hat für das, was Ausschwitz in ihm ausgelöst hat, ganz einfache, berührende Worte gefunden: „Das was da passiert ist, verletzt mich heute zutiefst in meinem Mann- und Vatersein. Das was geschehen ist, ist nun Geschichte, aber für mich steht nur eine Frage wichtig: „Was hat das  h e u t e mit mir zu tun?“ Diese Frage hat weitergewirkt. Viele der anwesenden Männer und Söhne haben begonnen über die Kriegserfahrungen ihrer eigenen Väter zu erzählen. Und wie schmerzvoll die Erinnerungen zu diesem Thema zum Teil noch heute sind. Auch die Schwierigkeiten der Öffentlichkeit im Umgang damit kamen zur Sprache. Dass der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger (1891-1972), der viele Juden gerettet hat, durch die St. Galler Regierung – die Stadtväter – erst 1998 rehabilitiert wurde (www.paul-grueninger.ch). Wie die schweizer Banken durch die USA gezwungen werden musste, reinen Tisch zu machen mit den jüdischen Vermögen. Mit diesen Geschichten ist verständlicher geworden, was zu Beginn der Konferenz einige Teilnehmer empört hatte: dass polnische Männer- und Väterarbeiter mit einem in Episoden gezeigten Hollywood-Kriegsfilm Männer zum gefühlsorientierten Austausch über ihre persönlichen Themen einladen. Und damit Erfolg haben. 

Diese Artikel wurde 2014 in der Männer-Zeitung publiziert.

Elternzeit in Schweden und in der Schweiz

Stockholm, 5. Januar 2011. Nine wird geboren - das zweite Kind meines Freundes Jens. Er geniesst die letzten Tage seines Vaterschaftsurlaubs. Um halb zehn Uhr ging die Sonne auf und um halb drei geht sie schon wieder unter. Die Nächte sind lang. Jens meint, dass es immer in dieser dunklen Winterzeit ist, wenn die Schwedinnen und Schweden ihre genialen Pläne aushecken. 

Vaterschaftsurlaub und Elternzeit in Schweden
So hat Schweden schon 1974 als erstes Land Europas die Elternzeit eingeführt. Unglaublich. Jens hat jetzt seine 10 Tage Vaterschaftsurlaub gehabt und wenn seine Christine in 14 Wochen ihren Mutterschaftsurlaub beendet, kann sie noch 6 Monate Elternzeit anhängen. Und ihre Stelle ist garantiert. Jens kann bis dann Teilzeit arbeiten, sich danach während drei Monaten seiner Tochter widmen. Eine schwedische Firma sieht darin in der Regel kein Problem. Während der Elternzeit erhalten beide einen Ersatzlohn von 80%. Acht von zehn Männern in Schweden nehmen heute drei Monate Auszeit. Einer von zehn Männern bezieht mehr als 40% der gemeinsamen 13 Monate Elternzeit. Das ist der Hammer - das reinste Eltern- und Vaterschaftsparadies!

Zwangs-Ernährerrolle in der Schweiz
Wie konnte ich nur meine Kinder in der Schweiz aufziehen - mit einem mickrigen Tag Vaterschaftsurlaub und keiner Elternzeit weit und breit? Das erste Jahr nach der Geburt war für mich und meine damalige Frau knallhart. Unsere erste Tochter war ein Schreibaby und wir hatten neun Monate lang beide nur wenig geschlafen. Die Nerven lagen blank. Da hätte ich Elternzeit gut gebrauchen können. Aber weil es eine neue Stelle war, musste ich 100% arbeiten. Der Arbeitgeber - eine soziale Institution - liess nicht mit sich verhandeln. Wie gerne hätte ich im ersten Jahr länger bei meiner Tochter bleiben und die Mutter unterstützen wollen! Hab mir gewünscht, mal ein paar Monate lang Vollzeitpapa zu sein. Pech gehabt. Meine damalige Frau war eine französische Akademikerin und hatte es total schwer, eine Stelle zu kriegen, jahrelang. Da musste ich voll ran. Mein Traum vom Teilzeitpapa war ausgeträumt. Sieben Jahre später stand die Trennung vor der Tür. In Schweden wäre mein Leben anders verlaufen.

Elternzeit für Väter: ein Gewinn für alle
Seit der Einführung der Elternzeit für Väter 1995 ist die Scheidungsrate in Schweden stark gesunken. Währenddessen ist sie in vielen anderen Ländern gestiegen. Die Frauen machen fast die Hälfte der Berufstätigen aus. Der Anteil erwerbstätiger Frauen ist in Schweden höher als in den meisten anderen Ländern Europas. Das war gewollt. In den boomenden 60er Jahren machte Schweden einen strategischen Entscheid: Anstatt mehr Ausländer ins Land zu holen, wollte man mehr Frauen auf den Arbeitsmarkt bringen. Die Elternzeit hat die Situation grundlegend verändert: mehr Gleichstellung, mehr Kinderbetreuungsangebote, mehr berufstätige Frauen, höhere Löhne für Frauen, bessere Männer-Gesundheit, deutlich weniger Scheidungen und eine höhere Geburtenrate. 

Elternzeit steigert die Lebenserwartung
Das schwedische Karolinska-Institut hat eine Studie veröffentlicht, wonach Väter, die nach der Geburt eines Kindes Auszeit nehmen, länger leben als Väter, die durchgehend arbeiten. Die Forscher fragten 72569 Männer nach der Länge ihres Vaterschaftsurlaubes. Diese Daten verglichen sie mit der Sterblichkeitsrate. Das Resultat ist: Bei Vätern, die eine mehrmonatige Auszeit genommen haben, war das Sterberisiko 25% geringer als beim Rest. Für mich ist das nachvollziehbar: Als die zweite Tochter auf die Welt kam, nahm ich mir ein paar Tage frei, aber dann hatte ich im Job viel Stress und ich erlitt einen Unfall. Die Forscher gehen davon aus, dass Männer mit einer engen Beziehung zur eigenen Familie mehr auf ihre eigene Gesundheit achten und weniger Risiken eingehen. Sie ernähren sich besser, trinken weniger Alkohol, schlafen mehr oder gehen öfters zum Arzt. Bei mir war es so: Nach dem Unfall war ich mehr zu Hause und öfters beim Arzt.

Eine neue Form des Partnerschaftsgefühls
2007 wurde auch in Deutschland die Elternzeit eingeführt. Der Grossteil der Väter nimmt die Elternzeit gleich zu Beginn, um die Frau während der ersten Zeit mit dem Kind zu unterstützen. Die zweitbeliebteste Variante ist, dass Väter ihre Auszeit an die Elternzeit der Mutter anhängen, um ihr so den Wiedereinstieg in den Job zu erleichtern. Solche Erfahrungen definieren die Partnerschaft neu. Männer muttern und haushalten, die Mütter fühlen sich entlastet. Für viele Väter ist diese Zeit so prägend, dass sie ihre Frau nach der Elternzeit nach Kräften unterstützen und deutlich mehr Aufgaben im häuslichen Bereich übernehmen als vorher. Durch diese neue Verteilung der Aufgaben innerhalb der Familie entsteht eine neues Partnerschaftsgefühl. Ein grosser Teil des familiären Beziehungsaufbaus - «bonding» genannt - geschieht nach der Geburt. Die ersten sechs Wochen sind für Eltern und Geschwister ein Ausnahmezustand, in dem die Rollen neu definiert werden.

Ein Schweizer Modell für Elternzeit
Die Männer- und Vätergruppe, die ich in Zürich leite, war vom schwedischen Modell für Elternzeit und Vaterschaftsurlaub begeistert. Für alle Männer waren drei Dinge klar. Erstens würden sie ohne Zögern die Elternzeit beziehen. Zweitens würden sie einen Wechsel der Arbeitsstelle ins Auge fassen, wenn der Arbeitgeber nicht mitmachte. Drittens war für alle unvorstellbar, dass die Schweiz in absehbarer Zeit ein vergleichbares Modell einführen wird. Doch die Eidgenössische Kommission für Familienfragen (EFKK) hat im Oktober 2010 ein detailliertes Modell für Elternzeit in der Schweiz vorgelegt (vgl. Kasten). Dort wird deutlich, dass der Bundesrat und das Parlament zwar bisher alle Vorstösse dazu zurückgewiesen haben, dass aber eine klare Mehrheit der Parteien für eine Einführung des Elternzeitmodells wäre.

Der politische Durchbruch für das schwedische Modell
Wie war es möglich, dass sich die Elternzeit in Schweden durchsetzen konnte? Schweden hatte nämlich lange Zeit Schwierigkeiten mit der Umsetzung der Elternzeit. Bis 1991 gab es keine reservierte Elternzeit für Väter. Nur 6% der Väter nahmen ihre Elternzeit. Die Unternehmen gaben den Männern zu verstehen, dass ein Elternurlaub nicht willkommen sei. Aufgrund der niedrigen Frauen-Löhne blieben die Männer mit den höheren Löhnen an der Arbeit. Sie überliessen die Elternzeit den Frauen. Lange meinte die Politik, dass es genüge, Frauenpolitik zu machen und für Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Jedoch erst als die Politik die Männer ins Zentrum der Gleichstellungspolitik stellte, erfolgte der politische Durchbruch.

Gleichstellung als Aufgabe der Gesamtpolitik
Walter Hollstein, der bekannte Schweizer Geschlechter- und Männersoziologe, hat 2008 aufgezeigt, dass das Hauptproblem der deutschsprachigen Geschlechterpolitik ist, dass sie auf Frauenpolitik beschränkt bleibt. Schweden hat vorgemacht, dass Gleichstellungspolitik nur dann erfolgreich sein kann, wenn Frauenpolitik konsequent von einer geschlechterspezifischen Männerpolitik begleitet wird. Das schwedische Gleichstellungsministerium hat bereits 1983 eine eigene Regierungsabteilung eingerichtet, die sich der Männerfrage widmet. Der Anteil männlicher Erziehungs- und Lehrkräfte in Kindergärten, Horten und Schulen wurde erhöht, «Väterkurse» wurden eingeführt, um die Männer auf die Elternzeit vorzubereiten. Im Gegensatz zu den deutschsprachigen Ländern fördert ein fortschrittliches Steuersystem die Gleichstellung. 1994 betonte der damalige schwedische Ministerpräsident Carlsson, dass Gleichstellung nicht die Aufgabe eines einzelnen speziellen Ministeriums sein könne, sondern Aufgabe der Gesamtpolitik Schwedens sein müsse. Dabei hatte die Abteilung für Gleichstellung eine entscheidende Prüfungs- und Kontrollfunktion. Entsprechend war diese Abteilung nicht im Frauen- oder Familienministerium, sondern im zentralen Wirtschafts-Ministerium angesiedelt.

Familienfreundlichkeit als Standortfaktor
Die Einführung der Elternzeit für Väter wurde in Schweden begleitet durch eine Sensibilisierungs-Kampagne in der Wirtschaft - mit einer männergerechten Sprache. Die Firmen haben sich darauf eingestellt, dass ihre Angestellten - ob Frau oder Mann - in die Elternzeit gehen. Seit 2006 ermutigen mehr als 40% der Firmen Väter zur Elternzeit - 1993 waren es nur 2%. Für viele Firmen ist Familienfreundlichkeit ein zentraler Unternehmenswert geworden - zum Beispiel für die Handy-Firma Ericsson. 2009 haben 28% der angestellten Frauen und 24% der angestellten Männer Elternzeit beansprucht. Auch der Kader. Der Chef der Human Ressources von Ericsson stellt fest: Früher wollten die Aufsteiger fette Lohnerhöhungen, heute wollen sie mehr Work-Life-Balance. Eine wachsende Anzahl von Unternehmen zahlt heute den Vätern 90% des Lohnes während dem Urlaub - 10% auf eigene Kosten. Und die Frauenlöhne steigen. Eine Untersuchung zeigt, dass mit jedem Monat Auszeit, die ein Vater bezieht, das Gehalt der Frau um 7% ansteigt! Die Lohnunterschiede sinken.

Elternzeit transformiert sogar nordische Jäger
Die Elternzeit hat Schweden nachhaltig verändert. Viele Männer wollen nicht mehr nur über ihre Arbeit definiert werden. Die Familien erwarten von ihren Männern, dass sie eine Auszeit nehmen. Die Männer haben oft zuerst Angst davor: Babypflege, Kochen und Putzen, schlaflose Nächte - aber nach ein paar Monaten haben es auch die Hartgesottenen gelernt - sogar Mike Karlsson, Besitzer eines Schneetöffs, zweier Jagdhunde und von fünf Gewehren. Für ihn ist nicht vorstellbar, seine Auszeit für seinen Sohn Siri nicht zu nehmen: «Alle tun es». Und wenn er es nicht macht, stellen Familie und Freunde komische Fragen. Seine Frau, die Polizistin Sofia, findet ihren Mann am attraktivsten, wenn er im Wald unterwegs ist - mit dem Baby auf dem Rücken und den Hunden an der Seite. Jens, meinen Freund in Stockholm, wird man jetzt öfter mit seiner Nine vor dem Bauch durch die Stadt ziehen sehen. Er kann seine Vaterschaft geniessen und doch Karriere machen. Meine Töchter sind inzwischen 12- und 15-jährig. Bereits in etwa zehn bis fünfzehn Jahren sind sie vielleicht Mütter. Für mich ist klar: Meine möglichen Schwiegersöhne, die Väter von meinen Enkeln, sollen auch Vaterschaftsurlaub und Elternzeit kriegen - hier in der Schweiz. Ganz nach dem Motto des schwedischen Ministers Westerberg, der für die Einführung der reservierten Elternzeit für Väter verantwortlich war: "Gleichstellung in der Gesellschaft kann nur erreicht werden, wenn die Gleichstellung in den Familien gelingt."

Quelle/Text: Bernhard von Bresinski, 2011, www.maennerzeitung.ch

Fünf Männer, zehn Kinder und ein Supersommer

Aktive Papis nehmen sich Väterzeit 


Bernhard von Bresinski

An dunklen Wintertagen ist nichts so schön, wie die hellen Erinnerungen an die sonnigen Sommertage am See. Es ist eine Weile her, es war im Supersommer Zweitausendundfünfzehn, da ereignete sich auf dem Naturfreunde-Campingplatz Aschbach am Greifensee etwas Aussergewöhnliches, das eigentlich ganz normal sein sollte. 

Fünf Männer auf ihren vollbepackten Tourenvelos, fuhren je mit einem Kinderanhänger im Schlepptau auf die Wiese am See. Und mit dem Murmeln, Kichern und Schreien wurde klar: Fünf Väter sind es, mit zehn Kindern – und? Immer wieder mal ein verstohlener Blick: Wo sind denn die Mütter, kommen sie noch? Aber mit der Zeit wurde das Unerwartete Realität: Da wird keine Mutter kommen. Denn die fünf Väter waren ganz für ihre Kinder da. Windeln wechseln, in den Arm nehmen und trösten, zusammen baden im See, Essen zubereiten auf dem Camping-Kocher, im Schatten Siesta machen und am Abend Gute-Nacht-Lieder singen. Je mehr man den Vätern zuschaute, umso klarer wurde: Das sind nicht nur Weekend-Väter, sondern das sind Routine-Papis, die das mit links machen wie Mamis – und doch alles irgendwie anders angehen.

UNTER VÄTERN LÄUFTS ANDERS

Meine siebzehnjährige Tochter und ich hatten im Frühling 2015 entschieden, dass wir für die Sommersaison in ein Hauszelt an den Greifensee ziehen. So konnte ich meine grosse Neugier nicht mehr zurückhalten, bin auf die Männer zugegangen und habe sie gefragt: Wie kommt ihr dazu, so mit Euren Kids unterwegs zu sein? Nun, es waren Papis aus Zürich, alle zwischen dreissig und vierzig Jahren alt, die sich fast jeden Donnerstag treffen. An diesen Donnerstagen, ihrem Vatertag, gehen sie auch oft zu zweit oder dritt mit den Kids auf die Josefswiese (ein Park im Kreis 5 von Zürich). Sie sind eine Männergruppe, die Vaterschaft und Freundschaft verbinden. Und alle fünf – Anton, Jörg, Tom, Lukas und Markus –- bestätigen, dass es so unter Vätern ohne Mütter einfach anders laufe. Das wollte ich genauer wissen: wie anders? Ja, so im Männer-Pulk sei es halt sehr unkompliziert, wenn Frauen dabei wären, hat habe das schon das Potential , rasch kompliziert zu werden. 

Unkompliziert, was heisst denn das? „Ja, wenn die Kinder dreckig sind, das sind sie halt dreckig.“ Wenn sie was Wildes tun, dann lassen Papas sie eben machen. Tendenziell würden die Väter den Kindern mehr zutrauen, als die Mütter. In dem Sinn jedenfalls, dass sie mehr Risiken erlauben, die die Kinder eingehen dürfen. Zum Beispiel ohne Flügeli schwimmen, beispielsweise, Sand in den Mund nehmen und ihn drin lassen, bis er wieder raus kommt, sich weh machen und das stehen lassen. Markus sagt dazu: „Wenn dann etwas passiert, wird das sehr unspektakulär aufgenommen“. Jürg erzählt: „Meine Kleine ist vom Bank gefallen, sie hat stark geweint – und die Reaktion der Männer war ein Schulterzucken ohne grosses Aufheben: „Jetzt ist sie halt runtergefallen“. Tom meint: „Ich verstehe das als einen wichtigen Teil meiner Vaterrolle, meine Tochter aus der Schutzzone zu locken – ja das ist eigentlich ein ziemlich traditionelle Rolle des Vaterseins“. Da unterbricht er das Gespräch, zieht dem unruhigen Bueb auf seinem Schoss ein Oberteil an, schmiert ihm die Beine mit Sonnencreme ein und gibt ihm ein Bilderbuch zum Anschauen. Dann reden wir weiter.

POSITIVE FEEDBACKS NERVEN

Im weiteren Gespräch in der Runde wird deutlich, dass alle fünf Männer Teilzeit arbeiten – fast alle achtzig Prozent – und dass alle fünf studiert haben. Auch die Partnerinnen arbeiten Teilzeit – aber deutlich weniger. Ein Maschineningenieur, ein Politikwissenschaftler, ein Geograph tätig in der Entwicklungshilfe, ein Softwarespezialist der ETH, zwei Elektroingenieure –- einer tätig als Fachhochschuldozent. Anton findet: „Wir sind uns total bewusst, wie privilegiert wir sind, wir konnten alle studieren, wir haben Partnerinnen, die Teilzeit arbeiten und es war für uns alle möglich zu reduzieren. Vier arbeiten achtzig Prozent und einer sechzig Prozent. Lukas erklärt: Mit achtzig Prozent  kannst Du gut eine Projektleitung machen, mit 60%  Prozent aber ist es schwierig ohne Einbussen. 

Markus ärgert sich über das häufige Lob im öffentlichen Raum: „ Wir bekommen sehr viele positive Feedbacks. Es geht mir richtig auf den Sack. Es zeigt, wie sehr  wir in der Schweiz noch konservativ sind, dass wir so positiv auffallen.“ Lukas nuanciert: „Auf der anderen Seiten kommt es auch häufig vor, dass wir von Müttern böse Blicke kriegen, weil wir Männer unsere Kinder stärker gewähren lassen – man spürt förmlich, dass sie uns zu rascherem Intervenieren animieren möchten.“  Tom bilanziert: „Als Vater die Kinder für mich alleine zu haben, das ist das Grösste und Wichtigste für mich“. 

Wie sehr diese Männer auf die Unterstützung ihrer Partnerinnen zählen können, wird deutlich an den Berufen und Arbeitspensen der Frauen. Die Frau von Anton ist Psychotherapeutin und arbeitet vierzig Prozent, die Frau von Markus ist Primarlehrerin und arbeitet dreissig Prozent, jene Markus ist ebenfalls Primarlehrerin und arbeitet vierzig Prozent, die getrennte Frau von Tom arbeitet fünfzig Prozent und die Frau von Lukas hat eine sechzig Prozent-Stelle in der Pharma-Branche. Zwei Paare hatten eigentlich geplant, dass beide Partner gleichviel, nämlich sechzig Prozent arbeiten wollen, aber dieses Ziel konnten sie nicht realisieren. Zwei Paare hatten bereits vor der Geburt die Aufteilung der Teilzeitpensen vereinbart. 

Ziemlich persönlich wurden die Gespräche, als wir über die Rollenteilung im Alltag sprachen. Sie unterscheidet sich bei allen fünf Paaren sehr. Markus: „Lange haben wir wegen unserem Kleinen schlecht geschlafen, dann haben wir die Zuständigkeiten für die Nächte klar aufgeteilt. Das brachte Entlastung. Dieses System haben wir dann beibehalten.“ Oder: „Am Wochenende haben wir immer wieder getrennte Zeit mit klarer Verantwortung. Wenn wir zu zweit zu den Kindern schauen, ist das nicht unbedingt einfacher.“ Die Rollenteilung im Haushalt ergibt sich oft aus den Präferenzen und ist deutlich geschlechterstereotyp geprägt: „Sie kocht gerne und ich kümmere mich gerne um die Hauselektronik,  – beschaffe die Geräte“. Oder: „Sie putzt und kümmert sich um die Ordnung,  – ich bin zuständig für Einkauf und Entsorgung – das haben wir so abgesprochen“. 

OHNE ELTERNZEIT  KEINE GLEICHBERECHTIGUNG

Am Tag darauf liegen die Männer in der grossen Mittagshitze im Schatten eines grossen Baumes – und die kleinen Kids liegen daneben im Gras und schlafen. Wir beginnen über die Gründe zu diskutieren, warum wohl Teilzeitpensen unter Vätern in der Schweiz noch wenig verbreitet sind, obschon die meisten Väter sich das wünschen. Dabei kristallisieren sich drei Hauptgründe heraus: 

Erstens: Die „Teilzeitphobie“ der Chefs, das heisst d.h. die stereotype Überzeugung, dass generalisierte Teilzeitlösungen für ein Unternehmen von Nachteil sei.  Für kleinere Firmen sei das tatsächlich nicht einfach zu lösen, aber für grössere Firmen wäre das kein Problem – es sei einfach eine Frage der Kultur. Anton: „Wir haben in unserer Software-Firma grosses Glück, der Chef ist selbst aktiver Vater und es ist für ihn einfach selbstverständlich, dass Väter Teilzeit arbeiten. Lösungen finden sich immer, wenn man sich gut organisiert.

Zweitens: Die „pseudo-aktiven“ Väter, das heisst d.h. die Lippenbekenntnisse der Väter, die vorgeben, dass sie gerne aktive Väter wären, aber nicht viel dafür tun. Es kommt gut an, wer sich als aktiver Vater präsentiert, aber viele reden sich raus mit Begründungen wie: „Ich weiss im Voraus, dass das nicht geht“ oder „weißt du, meine Job ist so wichtig, das geht nicht“. –  Anton findet: Das allgemeine Erklärungsmuster „ich würde gerne, aber ich kann nicht“ sei vorauseilender Gehorsam.

Drittens: Die fehlenden Massnahmen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Für die fünf Männer ist das Hauptthema einhellig der Vaterschaftsurlaub,  - der bei der Geburt eines Kindes automatisch gewährt werden sollte. In der  Praxis kann das sehr unterschiedlich sein. In der einen Firma gibt es zwei Wochen Vaterschaftsurlaub, in anderen nur eine Woche und dann gibt es welche, die kriegen gerade mal zwei Tage. Tom meinte: „Es ist absurd, für einen Todesfall gibt’s drei Tage frei – für die Geburt zwei Tage“.  Gerade beim Thema „Vaterschaftsurlaub“ wurde die privilegierte Situation der Akademiker sehr deutlich. Für einige der frisch gebackenen Väter war es keine grosse Sache eine zusätzliche Woche Ferien oder eine unbezahlte Woche Urlaub für den Urlaub zusätzlich zu organisieren. Vier der fünf Männer sprachen sich entschieden für die Einführung eines Elternzeit-Modells ein. Anton meinte: „Schau doch unsere Situation an – ohne Elternzeit-Modell gibt es keine Gleichberechtigung!“ Lukas – tätig in einem kleineren Ingenieurbüro – war sich nicht so sicher, ob das im Rahmen einer kleinen Firma überhaupt tragbar wäre. Einig waren sich die Männer darin, dass es unbedingt flexible institutionelle Rahmenbedingungen braucht, die Väterzeit fördern.

Für mich als Vater, dessen Töchter nun schon erwachsen sind, war die Begegnung mit diesen Papis ein sehr bereicherndes Erlebnis. Wir konnten feststellen, wie gross die Unterschiede nur zwischen einer Väter-Generation sind und trotzdem gerne über die neueste Outdoor-Ausrüstung fachsimpeln. Wir diskutierten viel über Geschlechterfragen und Politik, wenn nicht gerade ein Kind etwas brauchte. Wir spürten eine Zugehörigkeit, in dem was uns als Väter wichtig ist: Zum Beispiel die kleinen Rituale ums Essen und Schlafen, wie  - gemeinsames Zähne putzen, aus einem Buch vorlesen und oder ein paar Gute-Nach-Lieder singen.

Väter- und Elternzeit in Europa - Eine Übersicht

Wie steht es um Väter- und Elternzeit in Europa? Eine Übersicht.
 

Aktive Vaterschaft bezeichnet die erhöhte Beteiligung von Vätern in der Erziehung, der Betreuung der Kinder und den Familienbeziehungen. Eine aktive Rolle des Vaters hat nachweisbar positive Auswirkungen auf die soziale Kompetenz, die Schulleistungen und die Freundschaftsbeziehungen die Entwicklung von Kindern. 

Vaterschaftszeit bzw. Vaterschaftsurlaub ist in europäischen Ländern in der Regel zwei Wochen lang. Er kann, wie die Mutterschaftszeit, nur nach der Entbindung eines Kindes bezogen werden. In der Schweiz gibt es - wie in allen deutschsprachigen Ländern - keinen Vaterschaftsurlaub. Norwegen hat vier Wochen, Schweden, Dänemark und Island haben zwei Wochen und Finnland hat eine Woche Vaterschaftszeit. 

Vaterschaftsurlaub in der EU: Im April 2017 hatte Brüssel eine neue Richtlinie zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf vorgeschlagen. Zehn Tage Vaterschaftszeit bei der Geburt des Kindes für alle Väter Europas, mehr Elternzeit und das Recht auf eine Pflegewoche für Angehörige: Jungen Eltern und all jenen, die ihren kranken Ehepartner oder die Großeltern betreuen müssen.

Im Februar 2019 wurde nach harten Verhandlungen ist das Paket nun so gut wie geschnürt. Die endgültige Annahme durch den EU-Rat und das Parlament steht zwar noch aus. Die zehn bezahlten Papa-Baby-Tage, die übrigens der Frauenausschuss des EU-Parlaments schon 2009 gefordert hatte, konnte die Kommission zwar durchsetzen. Aber diese dürfen mit bestehenden Ansprüchen verrechnet werden. In zahlreichen Staaten, darunter Deutschland, ändert sich daher gar nichts. In Ländern, wo Väter zusätzliche Ansprüche erhalten, sollen die Regierungen selbst über die Finanzierung entscheiden.

Europäische Väterplattform PEF (Platform of European Fathers),  wurde gegründet 2011, wirbt gegenüber der EU-Sozialpolitik für aktive Vaterschaft und für eine gleichberechtigte Arbeitsteilung und Sorge für die Kinder. Sie setzt sich besonders für die gesonderte Vaterschaftszeit und bezahlte Elternzeit ein.

Elternzeit mit Elterngeld. Bezahlte Elternzeit bietet Eltern die Möglichkeit, zwischen 9 bis 14 Monaten bezahlte Familienzeit zu beziehen. Die Eltern können sich die Elternzeit frei aufteilen – abgesehen von der reservierten Elternzeit (Papamonate). Elternzeit wird zusätzlich zur Mutterschaftszeit zur Verfügung gestellt – in den skandinavischen Ländern auch zusätzlich zur Vaterschaftszeit. In Schweden, Norwegen, Dänemark und Island nutzen durchschnittlich 80% der Väter Elternzeit. In Deutschland, wo erst 2007 bezahlte Elternzeit eingeführt wurde, nutzen nun bis zu 40% der Väter Elternzeit. Die Schweiz hat kein Elternzeit-Modell. Es gibt auch Länder mit unbezahlter Elternzeit, d.h. gesetzlich geregelte Ansprüche für Elternzeit ohne Elterngeld. Die unbezahlte Elternzeit wird durch Väter nicht genutzt, sondern nur durch Mütter. Sie fördert eine traditionelle Rollenteilung.

Erfolgsfaktoren für Gleichstellung in Familie und Beruf: Die Gleichstellung in Familie und Beruf wird durch die Einführung von Elternzeit- und Eltergeld nicht automatisch gefördert. Dies ist nur der Fall, wenn Väter Elternzeit breit in Anspruch nehmen und Mütter rasch in den Beruf zurückkehren können. Mütter kehren erst dann rasch zurück in den Beruf, wenn das frühkindliche Betreuungssystem - Ganztagesbetreuung – von 1 bis 3 Jahre – gut ausgebaut ist. Aktive Väter blieben nach Bezug der Elternzeit nur dann nachhaltig involviert, wenn die Partnerin auf den Arbeitsmarkt zurückkehrt.

Erfolgsfaktoren für Elternzeit-Modelle: Von zentraler Bedeutung für den Erfolg von Elternzeit-Modellen ist die breite Nutzung durch Väter. Dafür müssen drei Bedingungen erfüllt sein: 1) Es gibt einen Kündigungsschutz und das Einkommen ist zu 67-80% garantiert, 2) es gibt für Väter reservierte Elternzeit - sogenannte „Papamonate“ - und 3) eine flexible Vereinbarkeit mit dem Beruf, d.h. Teilzeitlösungen sind möglich und rechtlich durchsetzbar. 

Pflegezeit. Bei Krankheit eines Kindes kann ein betrieblich oder gesetzlich geregelter Anspruch sein: Er ermöglicht, dass sich auch Väter um ihre kranken Kinder kümmern können. Schweizer Berufstätigen stehen maximal drei Tagen zu.  In Schweden stehen 60 Tage Pflegezeit zur Verfügung – auch für eine von den Eltern beauftragte Person.

Vereinbarkeit von Familie und Berufwird in der europäischen Union als zentraler Faktor gesehen, der einen positiven Einfluss auf die Karriere- und Familienplanung und die Geburtenrate hat. Elternzeit mit einem grosszügigen  Elterngeld, kombiniert mit sozialen Absicherungsmassnahmen wird als notwendig gesehen, um die europäischen Beschäftigungsstrategien umzusetzen. Dazu gehört vor allem auch die Erhöhung der Frauenerwerbsquote. 

Bernhard von Bresinski, lic. phil. Philosophie & Soziologie, Elternzeit-Experte, Praxis für Körperpsychotherapie & Paarberatung, Männer-Seminare mit Schwitzhütte und Tanz, www.bvonb.ch

Quellen Bernhard von Bresinski (2012): Aktive Vaterschaft und Beruf vereinbaren. In: Das Väter-Handbuch (2012)
Heinz Walter, Andreas Eickhorst (Hg.): Das Väter-Handbuch. Theorie, Forschung, Praxis. Psychosozial-Verlag 2012

Erstmals veröffentlich im Juni 2012 in der Männerzeitung. Aktualisiert im Juni 2019

 

 

Männerwelten. Männer und Väter in der Psychotherapie

Buchbesprechungen

Männerwelten. Männer in Psychotherapie und Beratung Claudia Christ, Ferdinand Mitterlehner, Schattauer, Verlag für Medizin und Naturwissenschaft 2013, 238 Seiten, ISBN 9789-3-7945-2909-4

Väter in der Psychotherapie. Der Dritte im Bunde? Heinz Walter, Helmwart Hierdeis Schattauer, Verlag für Medizin und Naturwissenschaft 2013, 259 Seiten, ISBN-978-3-7945-2819-6

Bücher über Männer in Psychotherapie und Beratung sind ein Seltenheit. Fachbücher über Väter in der Psychotherapie sind eine absolute Rarität. Sie sind ein Spiegel der Tatsache, dass die Psychotherapie-Szene den spezifischen psychischen Problemen von Männer und Vätern erst seit kurzer Zeit Aufmerksamkeit schenkt. Die zwei Bücher aus dem Schattauer-Verlag versuchen auf exemplarische Weise diese Leerstelle auszufüllen. 

Männerwelten – angenehm leserlich geschrieben von der Ärztin Claudia Christ und dem Psychologen Ferdinand Mitterlehner – ist ein spannendes Nachschlagewerk und ein praktikabler Leitfaden für Laien und Fachleute, die sich für das Thema Männer in der Psychotherapie und Beratung interessieren. Die Autoren schlagen einen grossen Themen-Bogen, stellen gut recherchierte Infos zur Verfügung und haben sehr viel Fachliteratur verarbeitet. Das hat zur Folge, dass die einzelnen Themen wenig vertieft werden und nur schlaglichtartig beleuchtet werden. Es ist als ein Einsteiger-Buch konzipiert und gibt einen fachkundigen Überblick. Auch ich als Männer-Spezialist in Sachen Therapie und Coaching habe gerade dadurch noch dazulernen können.

Väter in der Psychotherapie – Der Dritte im Bunde? – verfasst von Heinz Walter und Helmwart Hierdeis – ist durch seine akademische Sprache eindeutig ein Fachbuch für Psychotherapeuten und interessierte Akademiker. Für mich als psychotherapeutischen Fachmann füllt es eine grosse Lücke aus und gibt mir ein inspirierendes und praxisrelevantes Fachbuch für die Arbeit mit Vätern und Vaterthemen in die Hand.  Das Buch umfasst Beiträge von deutschsprachigen PsychotherapeutInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Mehrheitlich handelt es sich um psychoanalytische Beiträge, aber die Autoren haben sorgfältig darauf geachtet auch system- und körperpsychotherapeutische, kinder- und jugendpsychologische sowie gruppentherapeutische Vertreter zu berücksichtigen. Besonders wertvoll ist die Einleitung der Herausgeber, in der die Beiträge in den Kontext der Väterforschung gestellt und in den soziologischen und psychotherapeutischen Diskurs gestellt werden – mit Abstracts der Beiträge. Für Fachleute eine Muss.

Dieser Artikel wurde 2013 in der Männer-Zeitung publiziert.

Was Männer zu Männer macht

Buchbesprechungen zu den Mens Studies

Was Männer zu Männern macht, wie sich Männer in Bezug auf Frauen und andere Männer positionieren und auf welche Art und Weise sie Dominanz und Hierarchien herstellen, ist seit den 1980er Jahren zum Gegenstand der sogenannten „Mens Studies“ – der Männerforschung - geworden. Ich bespreche hier eine Reihe von Neuerscheinungen, die ich in Bezug auf die «Mens Studies» für spannende Beiträge halte, die aber nicht unbedingt aus diesem Feld stammen. Die aktuelle Auswahl ist deshalb besonders interessant, weil sie fast alle Arenen abdeckt, in denen Männlichkeit hergestellt, reproduziert und dominant gemacht wird: im Körper und der Geschlechteridentität, in intimen Beziehungen, im Haushalt, im Beruf und in reinen Männergesellschaften. 

Martin Licht, TM-Brevier. Das Handbuch für Transmänner, tredition 2012

Geschichten von Männern, die sich schon immer als Frauen fühlten und sich irgendwann mal zu Frauen umoperieren lassen, sind in den Medien häufig anzutreffen. Der umgekehrte Weg der «Transmänner» ist noch weitgehend unbekannt: Frauen, die sich als Buben und Männer fühlen, die sich in der Öffentlichkeit als Männer ausgeben und irgendwann mal auch die körperliche Geschlechtsumwandlung vollziehen. Wie schwierig dieser Prozess der «Mannwerdung» für Betroffene ist, macht das «Das Handbuch für Transmänner» deutlich. Es gibt sehr viele praktische Tipps für Menschen, die sich von einer weiblichen zu einer männlichen Identität hin bewegen. Das Buch gibt Antworten auf fast alle praktischen Fragen: von der Pinkelhilfe und dem Penishalter bis zu Psychotherapie, Hormontherapie und Namensänderung.

Der Autor, Martin Licht, beschreibt sehr offen seine Motive für den Ratgeber: «Nach vielen Jahren des Verdrängens stellte ich mich endlich meiner Identität – und sehr bald stand fest: Ich will mein Leben so leben, dass mein Aussehen mit meinem Selbstempfinden übereinstimmt. Denn genau das hatte mich all die Jahre seit meiner Kindheit am meisten gequält: immer wieder aufgrund von körperlichen Merkmalen als Frau definiert zu werden... Ich hatte mich nicht nur auf der Bühne, sondern immer wieder im alltäglichen Leben als Mann ausprobiert und fand es sehr beglückend. Ja, und da stand ich nun mit über 40 Jahren exakt an dem Punkt, an dem ich als Kind vor der Pubertät gestanden hatte: Ich wusste, dass ich keine Frau bin, aber meine Umwelt wollte dies nicht wahrhaben. Also musste ich etwas daran ändern...Doch dann merkte ich, wie schwierig, zeitaufwändig und umständlich es sein kann, die grundlegendsten Fragen beantwortet zu bekommen, die man in einer solchen Situation anfangs hat.» 

Für Transmänner und jene, die sie beraten und begleiten, ist dieses Handbuch eine sehr informative Orientierungshilfe. Und ich verstehe nun besser, wie grundlegend für Robert W. Connell, den Begründer der Männlichkeitsforschung und Autor des Buches «Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten» seine persönliche Erfahrung als Transfrau gewesen sein muss – als Mann der eine Frau geworden ist. 

Eva Illouz, Warum Liebe weh tut, Suhrkamp 2011

«Über die Liebe wird man nicht mehr diskutieren können, ohne sich auf dieses Buch zu beziehen». Diese Einschätzung der ZEIT kann ich voll und ganz teilen. Beim Lesen dieses Buches ist ein grosses Aufatmen durch meinen Körper geglitten. Als Paarberater, Traumatherapeut und Soziologie habe ich mich seit Jahren darüber geärgert, dass mir in dem ganzen Wildwuchs an psychologischer Paarhilfe-Literatur kein einziges Buch begegnet ist, das versuchte die Konflikte und Entwicklungen der modernen Liebesbeziehung konsequent aus der soziologischen Perspektive zu verstehen. Diese grosse Lücke ist mit diesem sehr klugen und leserlich geschriebenen Buch nun geschlossen worden. Es wirft einen radikalen und liebevollen Blick auf das aktuelle Leiden der Frauen und Männer an der Liebe.

Da Eva Illouz sich darum bemüht, das Vermeidungsverhalten der Männer mit dem Eingehen starker emotionaler Beziehungen soziologisch zu verstehen, ist es weder eine Antwort auf die Frage «Wo sind nur die guten Männer hin?» noch eine Anklageschrift gegen die sexuelle Freiheit. «Es ist vielmehr der Versuch, jene gesellschaftlichen Kräfte zu verstehen, die das emotional ausweichende Verhalten der Männer und die Folgen der sexuellen Freiheit prägen, wobei dieser Versuch nicht davon ausgeht, dass Männer von Haus aus unzulängliche Wesen sind...“

Der Freiheitskult im wirtschaftlichen Bereich hat gezeigt, dass er verheerende Konsequenzen haben kann – indem er beispielsweise Unsicherheit und gewaltige Einkommensunterschiede verursacht - deshalb sollten wir auch nach seinen Folgen im persönlichen, emotionalen und sexuellen Bereich fragen. Die zentrale Antwort kommt zuerst mal bekannt vor: Unter modernen Bedingungen verfügen Männer über eine weitaus grössere sexuelle und emotionale Auswahl und dieses Ungleichgewicht führt zur Dominanz der Männer. Jedoch erst die differenzierte Analyse von Illouz macht die Antwort aufschlussreich, weil sie die herkömmlichen feministischen Fallen kompetent vermeidet.

Sheryl Sandberg: Lean In – Frauen und der Wille zum Erfolg. Econ 2013

«Männer habe keine Ahnung, wie oft sie ganz selbstverständlich davon profitieren, dass sie Männer sind. Und das macht sie blind für die Benachteiligungen, die Frauen erfahren».  Das schreibt Sheryl Sandberg, die Nummer 2 bei Facebook. Bettina Weber hat das Buch im Tages-Anzeiger besprochen und preist es als wertvolle Männer-Lektüre an, weil es ohne Schuldzuweisungen und Opferdiskurs verständlich macht, wie Männer sich in der Geschäftswelt durchsetzen. «Sandberg hat keine Lösungen oder Leitlinien parat, und sie sagt den Frauen schon gar nicht, sie würden es sich zu bequem machen... Sie zeigt vielmehr auf, wie unterschiedlich die Wahrnehmung von Frauen und Männern in der Berufswelt immer noch ist und wie sehr Stereotypen dominieren.» Sandbergs Buch ist deshalb wertvoll, weil es eine nüchterne und ehrliche Bestandsaufnahme einer erfolgreichen Kaderfrau ist, die aus der Praxis berichtet. Die theoretische Begründung, weshalb die Geschlechter-Stereotypen so mächtig sind, kann man von ihr nicht erwarten, das müssen die Gender Studies leisten.

Karen Wagels: Geschlecht als Artefakt. Regulierungsweisen in Erwerbsarbeitskontexten. Transcript 2013

So umständlich wie der Titel dieses Buches klingt, ist es auch geschrieben. Es ist ein keine leichte Lektüre. Aber es bietet genau jene theoretische Begründung der Macht der Geschlechter-Stereotypen, die bei Sheryl Sandberg fehlt. Karen Wagels rückt den Körper als Medium der geschlechtlichen Selbstwahrnehmung und Kommunikation ins Zentrum der Analyse. Das Spektrum zwischen Mann-Sein und Frau-Sein wird im Arbeitsalltag vor allem über eine stereotype Form der Verkörperung inszeniert und reproduziert. Wagels hat diese Verkörperung anhand von Interviews mit Trans-Menschen erforscht, die sich nicht dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zuordnen oder zuordnen lassen. 

Da ist das Beispiel von Doris, die in das Feld der Erwerbsarbeit als «als Mann» eingetreten ist und zunächst «im gehobenen Management» erfolgreich war. Mit jeder neu erreichten Stufe wird ihre Situation schwieriger, weil sie damals im privaten Raum schon eine weibliche Identität lebt. Dorisist sich bewusst, dass das Diversity Management eine Transgender-Identität zulassen würde, aber die Barrieren und Einschränkungen im gehobenen Management verlangen dafür einen zu hohen Preis. In ihrer Position ist der Spielraum derart eng, dass nur ein Doppelleben möglich scheint.

Wagels bezeichnet die Macht der Geschlechter-Stereotypen als «Heteronormativität» – als ein machtvolles Feld von Denk- und Wahrnehmungsmustern gebunden an die geschlechtsspezifische Verkörperung. Auch wenn es möglich ist, mit einer lesbischen oder schwulen Identität im Feld der Erwerbsarbeit sichtbar zu werden, so muss sich dieses Sichtbarwerden doch in sehr engen Grenzen bewegen, die die heteronormative Ordnung vorgibt. Denn Macht konzentriert sich weitgehend in der männlichen Markierung von Positionen. Das heteronormative Feld übt einen grossen Zwang und eine versteckte Gewalt auf die Menschen aus, die sich darin bewegen – und dies erklärt die Macht der Stereotypen. 

Andrea Hungerbühler: „Könige der Alpen.“ Zur Kultur des Bergführerberufs. Transcript 2013

Von den Gipfeln der Wirtschaft ist es nicht weit zu den Gipfeln der Berge. Mit einem Frauenanteil von rund 1.8 Prozent ist der Bergführerberuf fast ausschliesslich eine Männerdomäne. Die numerische Dominanz geht mit einer maskulinen Codierung der Tätigkeit und des Berufsfeldes einher. Im April 2013 feierte der SAC – der Schweizer Alpen-Club - sein 150-jähriges Bestehen.

Spannend ist, dass die Gründerväter fast ausnahmslos Städter aus Basel und dem Mittelland aus liberal-konservativen Kreisen waren. Sennen und Älpler waren nicht dabei. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Bergführer als prototypischer, gleichsam idealer Landmann konstruiert. Über eine Art Bergromantik propagierte der SAC 1923 die Heimatliebe: «Vaterländisch wirkt der SAC, indem er die Leute, und gerade auch solche, die noch nicht vaterländisch denken ..., in die Berge führt.“

Andrea Hungerbühler zeichnet den historisch-soziologischen Prozess nach, durch die der Bergführer zu einer charismatischen Männer-Figur des Schweizer Alpinismus stilisiert wurde. Sie tut dies, indem sie die zentrale Kategorie der Männlichkeitsforschung – «die hegemoniale Männlichkeit» – als Lupe benutzt, um das Zusammenwirken von Beruf, Nation und Geschlecht zu untersuchen. Diese Dissertation ist glücklicherweise so verständlich geschrieben, dass sie auch für ein breiteres Publikum gut lesbar ist. 

Dieser Artikel wurde 2013 in der Männer-Zeitung publiziert.

Kritische Männerforschung - Mens Studies

Buchbesprechung

Gender Studies: Franziska Bergmann, Franziska Schössler, Bettina Schreck (Hg.), Basis Scripte Transcript Verlag, Bielefeld  2012

Die Gender Studies sind erwachsen geworden. Sie haben sich emanzipiert von ihrer Mutter – dem Feminismus – und von ihren Vätern - den patriarchal geprägten Geisteswissenschaften. Sie haben sich seit den neunziger Jahren international zu einer zentralen, interdisziplinären Forschungsperspektive entwickelt. Zudem sind sie mit dem Gender Mainstreaming politisch wirksam geworden. Inzwischen sind die Gender Studies selbst Eltern geworden und haben die Mens Studies hervorgebracht – die kritische Männerforschung. 

Die kritische Männerforschung befindet sich noch in der Jugendphase und sucht noch ihren Platz in der Welt. Sie hat auch ihren Platz in dem von drei Frauen herausgegebenen Band Gender Studies nicht richtig gefunden. Er bleibt dominiert, wie die Gender Studies selbst auch, von einer Frauenperspektive. Jeder Band der Reihe Basis Scripte des Transcript Verlages wird von renommierten SpezialistInnen des Fachs herausgegeben und enthält eine repräsentative Auswahl der jeweils gegenwärtig diskutierten kanonischen Texte. Hier werden anhand von fünfzehn Originaltexten – zwölf von Frauen - die Anfänge der Frauenforschung, aktuelle Fragestellungen der Queer Theory und Verknüpfungen mit anderen Fachrichtungen vorgestellt: von Virginia Woolf, Simone de Beauvoir und Helene Cixious bis zu Michel Foucault, Judith Butler und R.W. Connell. Besonders wertvoll ist, dass klassische Ansätze der US-amerikanischen Geschlechterforschung erstmalig in deutscher Übersetzung abgedruckt und für die Lehre von universitären Studiengängen aufbereitet sind: zentrale Texte von Judith Halberstam, Lee Edelmann, Gyatri Gopinath und Eve Kosofsky Sedgwick.

Schade ist, dass sich nur gerade drei Originaltexte der Erforschung von Männlichkeit widmen – aber immerhin wird darin eingeführt. Forschungen zu Männlichkeiten gehören heute zum etablierten Repertoire der Geschlechterforschung. Obwohl es dazu keinen verbindlichen theoretischen Rahmen gibt, beziehen sich Männlichkeits-Forschende in erster Linie auf die Arbeiten der australischen Soziologin R.W. Connell und des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Durch die Ausrichtung des vorliegenden Bandes auf die zentralen englischsprachigen Texte fehlt Bourdieu’s Klassiker „La domination masculine“. Für genderstudies interessierte Männer ist der vorliegende Band aber gerade deshalb besonders lesenswert, weil er einen ausgesprochen breiten Blick auf die Herkunftsfamilie der Gender Studies wirft.

Pornographie als Populärkultur

Buchbesprechung

Sven Lewandowski (2012): Die Pornographie der Gesellschaft. Beobachtungen eines populärkulturellen Phänomens, Transcript Verlag, Bielefeld


Ich liege an einem sonnigen Sandstrand und schreibe nun diese ersten Zeilen über dieses Porno-Buch der sozialtheoretischen Art. Was ich daran besonders geniesse ist, dass es in keiner Weise latente sexuelle Wünsche bedient, sondern diese eloquent analysiert und meinen männlichen Geist in einen wohltuenden Erregungszustand versetzt, der sich einstellt, wenn er intellektuelle Ahaerlebnisse in Hülle und Fülle erlebt.

Manchmal schweift mein Blick zu den fast nackten Frauen- und Männerkörpern und ich ertappe mich von Zeit zu Zeit bei diesem ganz normalen Strand-Voyeurismus, der diskret und ungeniert die vielfältigen Topographien von nackter Haut betrachtet. Und die Art und Weise wie in diesem öffentlichen Raum mein Blick an nackter Haut hängen bleibt, ist manchmal gar nicht so weit entfernt vom pornographischen Voyeurismus, wie ihn Lewandowski beschreibt. 

Voyeurismus ist die augenfälligste pornographische Phantasie und konstituiert pornographische Praxis. Jegliche visuelle pornographische Szene ist per definition voyeuristisch angelegt. Die erogene Zone des Voyeurismus ist das Auge, dessen Blick sich an den erotischen Handlungen anderer Menschen ergötzt und zu sexueller Erregung führt. Nun, die Existenz von Badeanstalten mit kaum noch bekleideten Menschen ist für die modernen Gesellschaften erst vor etwas mehr als fünfzig Jahren selbstverständlich geworden. Ebenso hat sich der gesellschaftliche Umgang mit der auf ein paar Mausklicks verfügbaren Hardcore-Pornographie eben erst gerade als ein Teil der zeitgenössischen Populärkultur normalisiert. 

Anstatt fruchtlose normative Debatten über die Gefährlichkeit und Verwerflichkeit von Pornographie weiterzuspinnen, stellt Levandowski die Frage nach dem Verhältnis der modernen Gesellschaft zu „ihrer“ Pornographie auf höchst differenzierte und vielschichtige Weise. Er verbindet psychanalytische, genderspezifische, techniksoziologische und systemtheoretische Perspektiven zu einer schlüssigen Sozialtheorie der zeitgenössischen Hardcore-Pornographie. Äusserst wohltuend ist die intellektuelle Schärfe, Differenziertheit und Schlüssigkeit mit der hier das komplexe Feld zwischen sexueller Praxis und abweichenden Sexualitäten, zwischen Amatuerpornographie im Internet und Pornographie-Industrie, zwischen Psychoanalyse und systemtheoretischer Gesellschaftstheorie aufgespannt wird. 

Kurz gesagt versteht Levandowski Pornographie als die massenmediale und marktkonforme Inszenierung der sexuellen Wünsche bzw Tagträume einer heterosexuell dominierten Männlichkeit. Pornographische Darstellungen werden nicht nur aus feministischer Perspektive als „frauenfeindlich“ beschrieben. Allgemein wird der Pornographie vorgeworfen, sie stelle weibliche Sexualität in verzerrter und unrealistischer Weise dar und degradiere Frauen zu passiven Objekten männlicher Lust. 

In den Augen von Levandowski zeigt sich jedoch, dass nicht nur Frauen und weibliche Sexualität, sondern auch Männer und männliche Sexualität höchst verzerrt dargestellt wird. Beide Seiten werden auf sexuelle  Klischees reduziert. Vereinfacht gesagt, handeln Frauen in der Pornographie so, wie Männer es phantasieren. Frauen werden überaus häufig als aktive Verführerinnen dargestellt. Männer werden entsubjektiviert, als trieb- und schwanzgesteuert inszeniert. Aus dieser Perspektive stellt Pornographie nicht so sehr männliche Phantasien der Beherrschung von Frauen, sondern vielmehr Phantasien eines männlichen Kontrollverlustes dar: es geht im Kern darum, dass sich heterosexuelle Männer wünschen, von einer als belastend empfundenen überrationalen Subjektivität erlöst zu werden.